Die Bezeichnung Ellenbogengelenksdysplasie fasst vier verschiedene Erkrankungen, die aufgrund von Entwicklungsstörungen zu Veränderungen und Missbildungen des Ellbogengelenkes führen, unter einem Begriff zusammen:

- Isolierter Processus anconeus (IPA)

- Osteochondrosis dissecans (OCD)

- Fragmentierter Processus coronoideus (FPC)

- Ellbogeninkongruenz


Besonders betroffen sind große und sehr große Rassen (Labrador, Rottweiler, Golden Retriever, Deutscher Schäferhund, Chow Chow), wobei die Symptome meist im Alter von 4 bis 10 Monaten beginnen.

Neben genetischen Komponenten spielen energiereiches Futter, starkes Wachstum und rasche Gewichtszunahme bei der Entwicklung der Erkrankung eine wichtige Rolle. Daher sollte auf eine gute Zucht (keine Zucht mit betroffenen Tieren und Tieren, die erkrankte Welpen geboren haben), sowie adäquate Ernährung und Gewichtskontrolle geachtet werden.

Bei der klinischen Untersuchung lassen sich je nach Erkrankung folgende Befunde erheben:

Die erkrankten Hunde zeigen häufig eine Auswärtsstellung der Vorderpfoten, die Ellbogengelenke werden eng am Körper gehalten. Tritt eine Lahmheit auf, ist diese anfangs intermittierend, stärker nach Ruhe und/oder Belastung und verstärkt sich im weiteren Krankheitsverlauf oft bis zur hochgradigen Lahmheit. Bei längerer Krankheitsdauer kann sich eine Muskelatrophie der Oberarmmuskulatur entwickeln. Die Gelenke sind vermehrt gefüllt und schmerzhaft bei Manipulation (passiver Bewegung und Druck). Bestehen schon erhebliche Arthrosen, können Reibegeräusche hörbar sein und Bewegungseinschränkungen des Gelenkes vorhanden sein.


Anatomie

Das Ellbogengelenk, ein sogenanntes Scharniergelenk, besteht aus drei verschiedenen Knochenanteilen. Die proximale Gelenkfläche wird von der Gelenkwalze des Oberarms gebildet. Diese wird vom oberen Anteil der Elle umfasst, die eine halbmondförmige Aussparung aufweist, wobei sie im oberen Teil den Processus anconeus als zapfenförmigen Fortsatz aufweist und nach unten in einem außen gelegenen kleineren Processus coronoideus lateralis und innen in einem größeren Processus coronoideus medialis (innerer und äußerer Kronfortsatz) ausläuft. Diese beiden unteren Fortsätze umgreifen wiederum den Radiuskopf, dessen Gelenkfläche ca. 80% des Körpergewichtes trägt (die beiden Processus coronoidei zusammen übernehmen ca. 20 %).

Isolierter Processus anconeus (IPA)

Bestimmte Knochenabschnitte, wie der Proc. anconaus (der stärkste Knochenvorsprung des Ellenbogengelenks), sind mit der Geburt nicht knöchern mit dem Ulnaschaft verbunden, sondern entwickeln erst nach einigen Monaten Wachstum eine knöcherne Verbindung. Unterbleibt diese nach 5 Monaten spricht man vom isolierten Processus anconeus. Ein chirurgischer Eingriff ist zur Entfernung des Proc. anconeus, bzw. Korrektur nötig.


Osteochondrosis Dissecans (OCD)

Die Osteochondrosis dissecans im Bereich des innen gelegenen Abschnittes der Gelenkwalze des Oberarms stellt eine Störung der enchondralen Ossifikation dar. Das Wachstum der Röhrenknochen erfolgt, sowohl im Bereich der Gelenkflächen als auch an den Wachstumsfugen, zunächst in Form von Knorpelzellen, die dann später verkalken und in Knochenzellen umgewandelt werden. Die Knorpelzellen im Bereich der Gelenkflächen werden durch Diffusion der Nährstoffe aus der Gelenkflüssigkeit ernährt. Wird die Knorpelschicht infolge einer zu hohen Wachstumsgeschwindigkeit (zu langsame Verknöcherung) zu dick, führt dies zum Absterben von Knorpelzellen an der Grenze zum Knochen. Zusätzliche mechanische Beanspruchung stellt einen weiteren Faktor dar, so dass Risse und Fissuren im Gelenkknorpel entstehen und sich teilweise ganze Schuppen ablösen. Als Folge gelangt Gelenkflüssigkeit in Kontakt mit dem unter dem Knorpel gelegenen Knochen und den abgestorbenen Knorpelzellen. Eine Entzündungsreaktion wird hervorgerufen, die eine vermehrte Gelenkfüllung, Dehnung der Kapsel, Schmerz und damit Lahmheit bewirkt. Abgelöste Knorpelschuppen verbleiben in der Regel an ihrem Platz, können aber auch als freie Gelenkkörper im Gelenk gefunden werden.


Fragmentierter Processus coronoideus (FPC)

Der Processus coronoideus medialis verknöchert bei Hunden großwüchsiger Rassen erst im Alter von vier bis fünf Monaten. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er sehr empfindlich gegenüber jeglicher Überbelastung. Kommt es zu einer Stufenbildung im Ellbogengelenke durch unterschiedliches Längenwachstum von Elle (Ulna) und Speiche (Radius), kann es, bei einer längeren Elle, zur Überbelastung des Processus coronoideus medialis kommen, so dass dieser partiell von der Elle abbricht. Auch wenn die Aussparung in der Elle, die den Oberarm umfasst, zu "eng" ist, kommt es durch eine Gewichtsverlagerung der Gelenkwalze nach vorn zur Stressfraktur des Fortsatzes. Im Falle einer Fraktur (Bruch) dringt Gelenkflüssigkeit in den Bruchspalt ein, wodurch wieder ein Entzündungsprozess in Gang gesetzt wird. Zusätzlich zur klinisch sichtbaren Lahmheit führen beide Erkrankungen zur Entstehung sekundärer Arthrosen, welche die Nutzbarkeit des Hundes in seinem weiteren Leben erheblich beeinträchtigen können. FCP und OCD treten bei vielen Hunden an beiden Vordergliedmaßen auf. Somit bedarf es oft eines zusätzlichen Traumas (mechanischer Einwirkung) an einem der beiden Vordergliedmaßen, bis der Hundehalter an dem stärker schmerzhaften Bein eine Lahmheit erkennen kann. Zu diesem Zeitpunkt haben die Hunde oft schon ein Alter von 10 bis 14 Monaten erreicht, und die Arthrosen sind entsprechend weit fortgeschritten. Untersuchungen in Schweden, Norwegen und England haben ergeben, dass bei beiden Erkrankungen eine genetische Disposition vorliegt. Durch eine Anpaarung von Hunden ohne FCP und/oder OCD bzw. ohne Arthrose konnte die Häufigkeit der Erkrankung deutlich herabgesetzt werden (ähnlich wie bei der Hüftgelenksdysplasie).


Ellbogeninkongruenz

Durch Fehlentwicklung und Wachstumsstörungen kommt es zu einer Asynchronität im Wachstum von Radius und Ulna und somit zu einer Inkongruenz des Gelenkes mit stärkerer Arthrosenbildung. Durch Fehlbelastung kann daraus ein Fragmentierter Processus coronoideus (FPC) resultieren. Neben Bewegungseinschränkung ist eine Längenkorrektur und Angleichung beider Knochen durch einen chirurgischen Eingriff wichtig.

Diagnostik

Eine wichtige Rolle bei der Diagnostik und Differenzierung der verschiedenen Ellbogengelenkerkrankungen kommt der radiologischen Untersuchung zu. Dazu ist eine hohe Aufnahmequalität von großer Wichtigkeit, da besonders im Anfangsstadium der Erkrankung die Röntgenveränderungen sehr diskret sein können und eine genaue Betrachtung der Aufnahmen erforderlich ist. Es sollten immer, auch bei einseitiger Lahmheit, beide Ellbogengelenke geröntgt werden. Zur exakten radiologischen Darstellung des Ellbogengelenkes existiert eine große Anzahl von unterschiedlichen Röntgenprojektionen, bei denen jeweils unterschiedliche Gelenkabschnitte besonders hervorgehoben werden. Eine weitere Möglichkeit bietet die Anfertigung von Schichtaufnahmen. Während man die Osteochondrosis dissecans in der Regel direkt durch Röntgenaufnahmen nachweisen kann, ist dies bei Brüchen im Bereich des Kronfortsatzes nur selten möglich. Zum radiologischen Nachweis eines FCP ist man meistens auf die Interpretation sekundärer Veränderungen angewiesen. Das Ziel ist es, die Erkrankung vor dem Auftreten massiver Arthrosen zu diagnostizieren.


Prophylaxe

Für IPA, FCP und OCD sind genetische Dispositionen (ähnlich wie bei der Hüftgelenksdysplasie) nachgewiesen. Die Manifestation der Erkrankung oder ihr Schweregrad können durch eine Verbesserung der Haltungsbedingungen beeinflusst werden. Dazu gehören vor allem Fütterung und Bewegung. Wenn die Hunde älter als drei Monate sind, dürfen sie nicht "überfüttert" werden (zu hoher Gesamtenergiegehalt; Rohprotein sollte 22 bis 25% betragen), und das Zufüttern von Mineralstoff- und/oder Vitaminpräparaten sollte, außer bei nachgewiesenen Mangelzuständen, unterbleiben. Die "kontrollierte" Fütterung wird die Endgröße der Tiere nicht beeinflussen sondern zu einer langsameren, gleichmäßigeren Wachstumsgeschwindigkeit führen und damit das Risiko für die Manifestation von "Wachstumserkrankungen", die im Alter von drei bis sieben Monaten auftreten, herabsetzen. Für die frühzeitige Diagnose ist es wichtig, lahmende junge Hunde prädisponierter Rassen einer genauen Untersuchung zu unterziehen (klinisch und radiologisch). Sind bei Hunden im Alter von vier bis fünf Monaten noch keine Röntgenveränderungen im Ellbogengelenk zu finden, müssen vier bis sechs Wochen später unbedingt Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden!!! Da nachgewiesen ist, dass FCP/OCD erbliche Erkrankungen sind, besteht das Ziel darin, ihr Auftreten durch Selektion in der Zucht zu verhindern. 1989 wurde die IEWG (International Elbow Working Group) gegründet, der spezialisierte Tierärzte verschiedener Länder, aber auch andere Mitglieder angehören. Ihr Ziel ist es, die erblichen Ellbogengelenkerkrankungen nach einem international einheitlichen Screening zu erfassen, ihre Häufigkeit zu ermitteln und die erhobenen Daten statistisch auszuwerten. Da zur Diagnose von OCD/FCP viele verschiedene Röntgenprojektionen gefordert werden, ein Verfahren, das sich für Reihenuntersuchungen, ähnlich dem HD-Röntgen nicht eignet (z. B. aus finanziellen Gründen), wurde als Standardaufnahme pro Ellbogen je eine mediolateral-gebeugte Projektion im Winkel von ca. 45° gefordert. Manche Gutachter verlangen zusätzlich eine craniocaudale Aufnahme. Mit diesen Aufnahmen, die im Alter von mindestens einem Jahr angefertigt werden sollen, werden die sekundär entstehenden arthrotischen Veränderungen in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollten allen Interessierten (z. B. Tierärzte, Züchter, Genetiker) zur Verfügung stehen, so dass Informationen über den Status der Ellbogengelenke einer Hündin/eines Rüden vor der Belegung verfügbar sind. In skandinavischen Ländern, wo solche Zuchtprogramme schon seit vielen Jahren durchgeführt werden, werden Hunde mit Arthrosen am Ellbogengelenk nicht automatisch von der Zucht ausgeschlossen, aber die Züchter nutzen die Möglichkeit, mit den zur Verfügung stehenden Daten, nicht betroffene Hunde in der Zucht zu bevorzugen. Bereits dadurch konnte die Inzidenz von FCP und OCD deutlich herabgesetzt werden.


Therapie

Währen OCD-Defekte ohne Schuppenbildung oder freie Gelenkmäuse bei strikter Ruhe und Futterumstellung ausheilen können, besteht bei größeren Läsionen oder dem Vorliegen von Knorpelschuppen nur die Möglichkeit der operativen Entfernung der Dissekate und des Auskratzen des Dissekatbettes. Auch beim FCP sollte die operative Therapie mit Exstirpation des abgebrochenen Knorpel-Knochenstückes möglichst frühzeitig vorgenommen werden.

Quelle: Dr.J.-F.Salomon / Frau Dr. Sigrid Schleich